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Reisesommer 2024: Zeiten des Umbruchs
Auch das internationale Reiseklima bewegt sich vielerorts wieder auf Vor-Corona-Niveau. Doch während die Nachfrage boomt, stehen die Anbieter vor umfangreichen Herausforderungen.
Die Nachfrage nach Urlaubsreisen ist in Deutschland im Sommer 2024 so robust und vital wie lange nicht. Die Buchungszahlen liegen vielerorts wieder auf Vor-Corona-Niveau, in einigen Bereichen auch darüber. Weder höhere Endpreise noch internationale Krisenherde vermögen den Bundesbürgern die Lust auf Sommer- und Auslandsurlaub zu verderben. Die Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen (FUR) erwartet für 2024 eine ähnlich hohe Zahl an Urlaubsreisen wie 2019 und prognostiziert rund 70 Millionen Reisen von fünf Tagen oder mehr. Urlaubsreisen stehen nach Beobachtung des Instituts bei den Konsumprioritäten an zweiter Stelle hinter Lebensmitteln, aber noch vor Wohnen oder Gesundheit.
Während der Appetit auf Urlaub groß bleibt, zeigen sich bei der Wahl auf der Menükarte kaum Überraschungen. Die Deutschen setzen im Sommer 2024 auf Bewährtes und Bekanntes. Die unter dem Stichwort Overtourism geführte Debatte über die sich abzeichnenden Kapazitätsgrenzen vieler Massenziele hat daran wenig geändert. Zu den beliebtesten Ländern für Pauschalreisen zählen laut der Untersuchung Travel Insights von Team Neusta auch in diesem Jahr die Türkei (30 Prozent), Spanien (26 Prozent), Griechenland (15 Prozent) und Ägypten (11 Prozent). Die Marktanteile haben sich gegenüber dem Vorjahr nur wenig verschoben. Lediglich Ägypten hat seinen Anteil von vier auf elf Prozent spürbar ausgebaut. Auch bei der Wahl der Urlaubsorte zeigt sich wenig Überraschendes: Zu den Top-Zielen gehören Side und Alanya (26 Prozent), Mallorca (15 Prozent), Hurghada und Safada (11 Prozent), Kreta (8 Prozent), sowie Antalya und Belek (6 Prozent). Preiserhöhungen auf nahezu allen Ebenen der touristischen Wertschöpfung werden von den Kundinnen in der Regel klaglos akzeptiert. Über alle Buchungen hinweg zeigt sich im Vergleich zu 2023 eine Zunahme des Warenkorbwertes von vier Prozent. Familien geben bei ihrer Reisebuchung laut Team Neusta sogar sieben Prozent mehr aus als im Jahr zuvor.
Ungebrochene Lust der Deutschen auf Sommerreisen im Jahr 2024
Die erfreuliche Stimmung auf dem deutschen Markt fügt sich in ein internationales Branchenklima, das ebenfalls von Optimismus und Wachstum geprägt ist. Laut der Untersuchung Global Travel Buyer Index der Agentur Fried & Partner geht die große Mehrheit der internationalen Einkäufer des ITB Buyer Circle davon aus, dass das laufende Jahr von steigender Nachfrage geprägt sein wird. 73 Prozent der Befragten rechneten im Mai 2024 mit wachsenden Buchungseingängen, 21 Prozent erwarteten ein unverändertes Geschäft, lediglich sechs Prozent kalkulierten mit schwächerer Nachfrage. „2024 erweist sich als phänomenal für den internationalen Tourismus. Nach der Pandemie ist es das erste Jahr, in dem keinerlei Covid-Beschränkungen mehr existieren. Wir erwarten, dass die Branche weltweit rund 1,6 Billionen Dollar und damit mehr als im letzten Vor-Covid-Jahr umsetzen wird“, prognostiziert auch Charuta Fadnis, Senior Vice President der Agentur Phocuswright. (Vgl. Auch Podcast: Deep Five: Latest Global Travel Market Insights von Phocuswright)
Die neu erwachte Reiselust motiviert nicht nur die europäischen Verbraucher, sondern manifestiert sich auch in anderen großen Quellmärkten. Als weltweiter Impulsgeber erweist sich der chinesische Markt, der mit einiger Verzögerung nach Aufhebung der letzten Covid-Beschränkungen wieder an Fahrt gewinnt. „Chinas Outbound-Tourismus erholt sich in erfreulichem Tempo. Wir erleben deutlich steigende Buchungen für visa-freie Reiseziele wie Singapur, Thailand und Malaysia, aber auch für Destinationen wie Japan, Südkorea, Saudi-Arabien, VAE, Türkei, Malediven und Europa“, berichtet Lydia Li, Deputy General Manager der Messe Berlin Shanghai. Die touristischen Erwartungen würden von der in den Neunziger Jahren geborenen Generation geprägt: „Jüngere Chinesen erwarten auf Reisen authentische Erlebnisse, individuellen Service und hochwertige digitale Angebote“, beobachtet Li. (Vgl. auch Trendcast: China Travel Market Insights).
Internationaler Tourismus erholt sich mit Optimismus und Wachstum
Während die internationale Nachfrage von Dynamik und Wachstum geprägt ist, werden auf der Seite der Anbieter die Karten vielerorts neu gemischt. In Deutschland heißen die Gewinner der jüngsten Pleite des drittgrößten deutschen Reiseveranstalters FTI vorerst TUI und Dertour, die als Nummer eins und zwei im Markt bestrebt sind die Marktanteile des insolventen Anbieters unter sich aufzuteilen. Bereits in der akuten Phase der Pleite bemühten sich fast alle Veranstalter die in Urlaubsorten kurzzeitig gestrandeten FTI-Urlauber mit Lockangeboten für sich zu gewinnen.
Vor allem Marktführer TUI will die Muskeln spielen lassen und erheblich expandieren. Für den Winter sollen bis zu 150 000 zusätzliche Plätze für Urlauber bereitgestellt werden. Neben den traditionellen Urlaubsorten zielt der Veranstalter auch auf neue Kapazitäten in Subsahara-Destinationen wie Kenia, Tansania und Sansibar. Ende Juni verkündete der Konzern zudem den Austritt aus dem Deutschen Reiseverband (DRV). Die Hannoveraner glauben ihrer Lobby-Interessen gegenüber Berlin und Brüssel künftig besser in Eigenregie als im Branchenverbund durchsetzen zu können.
Robustes Wachstum und Einflussnahme auf die europäische Wettbewerbs- und Digitalgesetzgebung scheinen für etablierte Reiseveranstalter wie TUI unverzichtbar um internationalen Buchungsplattformen Paroli bieten zu können. Bereits 2023 buchten laut einer Studie des Instituts Centouris 56,6 Prozent der deutschen Urlauber ihre Reise ausschließlich online – ein Langzeit-Trend, von dem Unternehmen wie Booking oder Airbnb weit stärker profitieren als traditionelle Anbieter. Bisher ist es vor allem die Wettbewerbsordnung der Europäischen Union, die die dynamische Expansion dieser Player zu begrenzen vermag. So verzichtete Booking im Juni nach Druck aus Brüssel europaweit auf seine sogenannte Bestpreisklausel, sodass Hotels künftig nicht mehr verpflichtet sind, auf Booking einen mindestens ebenso günstigen Preis anzubieten wie auf der eigenen Website.
Wirklich ausbremsen lässt sich die wachsende Marktmacht der Buchungsplattformen durch solche Punktsiege allerdings kaum. Digital-Unternehmen wie Booking arbeiten auf unterschiedlichsten Ebenen an neuen Verkaufs- und Vermarktungsstrategien und nagen damit unermüdlich an den Marktanteilen traditioneller Anbieter. So nimmt bei Booking der Anteil jener Buchungen, bei denen neben dem Hotel eine zweite Leistung gebucht wird, stetig zu. Laut Booking-Chef Glenn Fogel lag dieser im ersten Quartal des Jahres im „hohen einstelligen Bereich“ und um 50 Prozent über dem Vorjahreszeitraum.
Digitale Plattformen und KI: Die Zukunft der Reisebuchung wird neu gestaltet
Doch auch jenseits solcher Momentaufnahmen spricht vieles dafür, dass die Digitalisierung des Reisegeschäfts gerade erst begonnen hat und weitere Umbrüche bevorstehen. Dies zeigt sich etwa beim Blick auf China, wo Social-Media-Plattformen das touristische Geschehen bereits dominieren. „Chinas Verbraucher, aber auch Reisebüros und andere Anbieter nutzen bei Reiseplanung und Buchung in hohem Umfang Plattformen wie WeChat. Unternehmen, die auf dem chinesischen Markt mitmischen wollen, kommen an WeChat kaum noch vorbei“, berichtet Lydia Li. Auch der Einsatz von AI Chatbots gehöre in Chinas Tourismus zunehmend zum Alltag: „AI wird das Geschäft revolutionieren“, glaubt die Expertin.
Dass ein Unternehmen wie Google stärker in den touristischen Markt eingreifen wird, erscheint vor diesem Hintergrund nur eine Frage der Zeit. Der US-Konzern arbeitet intensiv an seinem Programm „AI Overview“, einer Weiterentwicklung der bisherigen Google-Suchfunktionen. Mittels Künstlicher Intelligenz sollen relevante Informationen aus Webseiten extrahiert, zusammengefasst und als direkte Antwort auf die Suchanfrage oberhalb der übrigen Ergebnisse angezeigt werden. Bezogen auf das touristische Geschäft könnte dies bedeuten, das Googles AI künftig detaillierte, hochindividualisierte Reisepakete präsentiert und somit weitere Urlaubs-Recherchen weitgehend überflüssig macht. „AI Overview“ steht noch nicht vor der Marktreife, da Künstliche Intelligenz bisher noch nicht in allen Fällen realitätstaugliche Antworten liefert. KI-Anfragen sind zudem rechnerintensiv und für den Anbieter mit hohen Kosten verbunden. Auch die Monetarisierung von „AI Overview“ über Werbeplatzvermarktung ist anders als bei der konventionellen Google-Suchanfrage noch wenig erprobt. Überbewerten sollte man solche Hemmnisse allerdings nicht. Dass Künstliche Intelligenz die Vermarktung und den Vertrieb von Waren und Dienstleistungen in nicht allzu ferner Zukunft auf ein neues Level heben wird, steht außer Zweifel. Auch die Reisebranche wird sich darauf vorbereiten müssen.
Text von Martin Jahrfeld